Der Lichtmann schreitet durch die finstere Allee. Zwischen
unzähligen Trauerweiden bahnt er sich einen Weg durch die schwere Dunkelheit.
Eine Stimme:
„Hilfe!“
„Wer war das?“, ruft er laut zurück. Doch der Schall
verdunstet in der Schwärze der Nacht wie siedendes Wasser. Niemand hört ihn.
„Komm her!“, schreit er mit einer noch zerschellenderen
Lautstärke als zuvor.
Abermals: Stille.
Der Lichtmann weiß, dass hier niemand um diese Zeit sein
darf. Er folgt der Allee weiter, bis er zu einer kleinen Holzbrücke gelangt.
Dort blickt er um sich. Unter ihm toben die Wellen eines unbändigen Wildflusses,
der rücksichtslos über die Steine im Untergrund fließt und auf seinem Weg so
manchen Gesteinsbrocken ins Verderben mitreißt. Der Lichtmann sieht hinab auf
einen schmalen Felsen, der ins Wasser ragt.
„Hilfe!“
„Zu spät!“
Auf dem Felsen liegt eine junge Frau, die sich mit letzter Kraft
daran festklammert.
„Ich werde sterben!“
„Das sehe ich.“
Der Lichtmann starrt noch für kurze Zeit auf den Fluss, dann
bedankt er sich bei ihm und verabschiedet sich:
„Gut gemacht! Sie hat das Licht nicht gesehen.“
Der Lichtmann geht weiter auf der Allee. Hinter ihm vernimmt
er einen quälenden Schrei. Der Fluss hat den Felsen mitsamt der jungen Frau
darauf weggerissen und ihr ein nasses Grab in seinen Fluten geschenkt. Er
erreicht eine weitere Brücke. Diese ist in einem schlechteren Zustand als die vorherige.
Einige Bretter fehlen und sie wirkt sehr baufällig. Unter ihr verläuft ein
Ausläufer des gleichen Gewässers, doch das Flussbett ist nicht einmal zur
Hälfte mit Wasser gefüllt. Auch die Wellen schwingen nicht so rasant umher. Der
Lichtmann wirft einen flüchtigen Blick nach unten. Im Wasser befindet sich ein
etwa zehnjähriges Kind, das wild mit den Händeln fuchtelt.
„Hilfe!“
„Zu spät!“
„Ich werde ertrinken!“
„Das sehe ich.“
Der Lichtmann wendet seine Augen ab, bedankt sich wieder beim
Fluss und folgt der Allee bis zum Ende. Währenddessen fällt ihm auf, dass die
Schreie des Kindes plötzlich von einem Moment auf den anderen verstummt sind.
Am Ende des Weges prangt ihm der bemitleidenswerte Anblick einer zerstörten
Brücke, die einst über einen langen Graben führte, entgegen. Er sieht in diesem
den Körper eines anderen Kindes liegen. Es wirkt leblos. Der Lichtmann glaubt,
dass es solange durch diesen Ausläufer des Flusses, der nun kein Wasser mehr
führt, getrieben ist, bis dieser austrocknete und nun aus nichts mehr als
Schutt und Erde besteht.
„Hilfe!“
Wer hat das gerufen? Es müssen die letzten Tropfen des
Flusses gewesen sein, die nunmehr in diesem trockenen Graben auf ihren Tod
warteten. Das war das erste Mal, dass der Lichtmann das Wasser sprechen hörte.
„Wenn die Sonne kommt, wenn das Licht kommt …“, singen sie
als Chor voller verzweifelter brüchiger Stimmen.
Der Lichtmann geht in den Graben hinab und setzt sich auf den
Boden. „Das wird nicht geschehen. Ich werde das Licht abwehren.“
Die Wassertropfen wissen, dass dies eine Lüge war. Der
Lichtmann benötigt das Licht zum Leben. Eine jede Nacht ist für ihn ein Kampf
ums Überleben.
„Wir wissen, was du getan hast!“ Die Wassertropfen hüpfen mit
ihrer letzten Lebenskraft wild im Kreis herum.
„Wir wissen es! Wir wissen es! Wir wissen es!“
„Was?“ Der Lichtmann ringt um Atemluft. Sein Herz pocht so
stark, dass er glaubt, seine Brust würde jeden Moment platzen.
„Du hast die Frau ans Wasser gelockt und sie sterben
lassen!“, ruft einer der Tropfen, und lacht dabei über das geplagte Gewissen
des Lichtmann.
„Und dem Jungen hast du versprochen, dass du ihm das Fischen
beibringst! Bis du ihn dann im Wasser stehenlassen hast!“, sagt ein anderer.
„Nein, ihr versteht das nicht! Sie sind selbst schuld!“
„Wir wissen es! Wir wissen es! Wir wissen es!“
Die Wassertropfen tanzen so ausgiebig, dass man nicht glauben
kann, wie sehr sie eben noch gelitten haben.
„Es reicht!“
Der Lichtmann schlägt mit der Faust auf die Tropfen, doch sie
haften sich nur an seine Hand, um dann mit einer unbeschreiblichen Leichtigkeit
wieder hinabzufließen. Er kann sie nicht zerstören. Er kann es nicht.
Wohin verschwindet die Finsternis? Die Dämmerung des Morgens scheint allmählich einzusetzen. Im nächsten Augenblick überrascht eine gewaltige Flut Wasser den Lichtmann, der sich noch immer im Graben befindet. Irgendwo muss es ein Lichtstrahl durch die finstere Wolkendecke dieser Nacht geschafft haben und das zugefrorene Wasser eines kleinen ruhigen Sees, der eine Verbindung zu diesem Graben hatte, aufgetaut haben. Die Fluten, die den Lichtmann nun für immer und ewig begraben, wollten sich an seinen grauenhaften Taten rächen, für die sie immer bürgen mussten.
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